Hinsichtlich der jüngsten Ereignisse in der Türkei haben wir den Sozialwissenschaftler und Experte für Migrationsforschung und Zuwanderungspolitik Dr. Yasar Aydin um Stellungnahme gebeten.
ELBE EXPRESS/INTERVIEW
Wie beurteilen Sie das Ergebnis der türkischen Parlamentswahl vom 01. November 2015?
Die Parlamentswahlen fanden aus der Sicht der AKP unter ungünstigen Bedingungen statt. Die Wirtschaftsdynamik hatte sich spürbar abgeschwächt, die türkische Währung verlor gegenüber dem US-Dollar und Euro deutlich an Wert und zwischen türkischen Streitkräften und PKK-Kämpfern eskalierte die Gewalt. Dass es der AKP dennoch gelang, ihre absolute Mehrheit im Parlament zurückzugewinnen, lässt sich mit der Unfähigkeit der Oppositionsparteien zu einer konstruktiven Zusammenarbeit erklären. Die Uneinigkeit der Opposition schien für viele Erdoğan zu bestätigen, der bereits im Wahlkampf Koalitionsregierungen für die politische Stabilität des Landes für schädlich erklärt hatte. Aufgrund der Unfähigkeit der Opposition zu einem Zusammenschluss und mit einem harten Durchgreifen gegen die PKK konnte sich die AKP als eine für Stabilität und Sicherheit stehende Partei profilieren und unentschlossene Nationalisten und religiöse Kurden zurückgewinnen.
Wie beurteilen Sie Staatspräsident Erdoğans Chance, in der Türkei ein Präsidialsystem einzuführen?
Um das Präsidialsystem einzuführen braucht die AKP eine Verfassungsänderung per Referendum, wofür ihr nur wenige Stimmen fehlen. Allerdings sind die Erfolgsaussichten bei einem Referendum nicht sehr günstig. Ein anderer Weg wäre eine vorzeitige Erneuerung der Parlamentswahl, bei der entweder die MHP und die HDP oder einer von ihnen an der für den Einzug ins Parlament notwendigen 10-Prozent-Hürde scheitern. So würden deren Mandate an die AKP zufallen und diese möglicherweise eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament erreichen, die für eine Verfassungsänderung nötig ist. Eine weitere Möglichkeit wäre, die HDP zu einem Deal zu überzeugen. Diese hatte ein Präsidialsystem mit Erdoğan an der Spitze entschieden abgelehnt, nach der Parlamentswahl jedoch Kompromissbereitschaft signalisiert. Allerdings könnten derartige Bemühungen die AKP vor einer Zerreißprobe stellen oder gar zu einem Zusammenbruch des AKP-geführten Machtblocks führen.
Wie bewerten Sie die Ereignisse im Südosten der Türkei?
Die Verhandlungen zwischen der Regierung und der PKK führten zu keinem Ergebnis, weil die Lösungsvorstellungen der Konfliktparteien sich stark unterschieden und Interessengegensätze nicht überwunden werden konnten. Die Regierung war bestrebt, das kurdische Problem auf einer Weise zu lösen ohne die nationalstaatliche und unitäre Struktur des Staates und die territoriale Integrität des Landes anzutasten. Fatal war auch, die Lösung des Kurdenproblems an einem Systemwechsel (vom Parlamentarismus zum Präsidialsystem) zu koppeln. Statt die demokratischen Rechte der Kurden auszuweiten, hat die Regierung auf intransparente Verhandlungen mit der PKK-Führung gesetzt. Die PKK-Führung wiederum scheint die Verhandlungen – so lässt sich ex post deuten – als Vehikel benutz zu haben, um ihre Position aufzuwerten, Zeit zu gewinnen und sich aufzurüsten.Die PKK hat ihre Stärke massiv überschätzt und – angesichts der Aufwertung, die sie in den westlichen Medien erfahren hat – angenommen, der Westen würde ihren bewaffneten Kampf unterstützen.
Was geschieht dort Ihrer Ansicht nach?
Unter der Eskalation der Gewalt und Ausgangssperren leiden in erster Linie die Zivilisten. Es kommt zu Menschenrechtsverletzungen durch die Streitkräften bzw. Spezialeinheiten. Die Regierung muss innerhalb rechtsstaatlicher Rahmen agieren und auf die Verhältnismäßigkeit achten, die nicht immer gegeben ist. Es besteht auch die Gefahr, dass die Regierung ihre Kontrolle über die Streitkräfte verliert und die Generäle aus dem Konflikt gestärkt herausgehen, wie es in den 1990ern der Fall war. Verantwortlich für die Misere ist auch die PKK, die den Krieg in die Städte getragen hat. Auf dem Lande hat sie kaum Chancen gegen die türkischen Streitkräfte und erprobt deswegen in den Städten den Aufstand, um u.a. die Streitkräfte mit der Zivilbevölkerung zu konfrontieren. Dies ist eine Strategie, die auf dem Balkan und Nahost eine relativ lange Tradition hat.
Wie beurteilen Sie die Flüchtlingskrise in Europa und die damit verbundenen Entwicklungen?
Europa steht in der Pflicht, Menschen, die wegen Krieg und Verfolgung auf der Flucht sind, Schutz zu bieten. Gleichwohl stellt die gegenwärtige Situation die Europäische Union vor enormen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen. Zuwanderung bedeutet Chance für das alternde Europa, nötigt aber zugleich zu einer Umformulierung der dominanten kollektiven Identität, Umdefinition des vorgestellten „Wir“, die sehr schmerzhaft stattfinden können. Deswegen haben wir es neben der großen Bereitschaft, Menschen auf der Flucht zu helfen und sie willkommen zu heißen, auch Ungewissheit über das zukünftige Zusammenleben mit den Neuankömmlingen. Es besteht die Gefahr, dass durch die Instrumentalisierung rechtspopulistischer Kreise die Ungewissheit in Angst, Angst dann in Feindschaft umschlägt. Hier ist die Politik in der Pflicht, den Menschen die Angst zu nehmen und nachhaltige Lösungen anzubieten. Die aktuelle Zuwanderung von Menschen auf der Flucht beinhaltet nicht nur Chancen, sondern auch reichlich Sprengkraft für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft und auch der Europäischen Union.
Dr. Yaşar Aydın studierte an der Universität Hamburg Soziologie und Volkswirtschaft (2001), absolvierte an der Universität Lancaster (England) sein Masterstudium in Soziologie (2002) und promovierte 2009 an der Universität Hamburg mit der Dissertationsschrift „Topoi des Fremden: Zur Analyse und Kritik einer sozialen Konstruktion“. Nach der Promotion arbeitete er im Hamburgischen WeltWirtschaftsInstitut, an der Universität Hamburg und in der SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik als wissenschaftlicher Mitarbeiter. Er beschäftigt sich insbesondere mit der Türkeiforschung, Migrations- und Integrationstheorien und Migrationsbewegungen zwischen Deutschland und der Türkei. Derzeit ist er Lehrbeauftragter an der HafenCity Universität in Hamburg. Neben Fachbeiträgen schreibt er Kommentare für türkische (Hürriyet Daily News) und deutsche Zeitungen (Der Freitag).