Die schriftliche Urteilsbegründung im NSU-Verfahren sorgt für weitere Kritik an den Richtern des Oberlanggerichts München. Die Anwälte der Nebenkläger werfen den Richtern Ignoranz, Missachtung und Schonung des Verfassungsschutzes vor.
Elbe Express / Haber Merkezi
Das NSU-Urteil negiert die Dimension des NSU-Terrornetzes und ignoriert die Ergebnisse der Beweisaufnahme
In einer gemeinsamen Erklärung hieß es: “Der Rechtsstaat hat die Opfer des NSU-Terrors im Stich gelassen. Auch das schriftliche Urteil des Oberlandesgerichts München trägt nichts zur Wahrheitsfindung im NSU-Komplex bei. Es ist formelhaft, ahistorisch und kalt. Der Umfang von 3.025 Seiten soll verschleiern, dass der Senat unter Vorsitz von Manfred Götzl seiner Aufgabe der Wahrheitsfindung und der Wiederherstellung des Rechtsfriedens nicht gewachsen war. Der Tag der mündlichen Urteilsverkündigung vor fast zwei Jahren hat sich bei unseren Mandant*innen eingebrannt. Und dies nicht nur, weil Neonazis im Zuschauerraum begeistert klatschten, sondern auch, weil Manfred Götzl schon damals die Nebenkläger*innen, ihre Perspektive und ihre Interessen mit keiner einzigen Silbe erwähnte. Die jetzt vorgelegten schriftlichen Urteilsgründe, die die immer gleichen Satzfolgen wiederholen, sind auf 3.025 Seiten eine Fortschreibung dieser Missachtung des Gerichts gegenüber den Opfern des NSU. (..) Das Urteil gibt noch nicht einmal das ansatzweise wieder, was durch die Beweisaufnahme ans Licht gebracht wurde. Es hat die Ergebnisse der fünfjährigen Beweisaufnahme bis zur Unkenntlichkeit verkürzt oder dreist verschwiegen.”
Die Anwälte der Nebenkläger werfen den Richtern vor, an einer Aufklärung nicht interessiert gewesen zu sein. In der Erklärung heißt es weiter: “Immer wiederkehrende Textbausteine, die über Seiten gehen, erzeugen künstliche Länge. Mit diesem durchsichtigen Trick will der Senat des Oberlandesgerichts den Eindruck erwecken, er habe sich ausführlich mit dem Ergebnis der Beweisaufnahme auseinandergesetzt. Dieses Vorgehen wäre nur lächerlich, wenn es sich nicht um den NSU und seine fürchterlichen Taten, die gravierendste rechtsterroristische Mord- und Anschlagsserie der letzten Jahrzehnte ginge. Diese Art der Urteilsabfassung spiegelt wider, dass die Richter des Oberlandesgerichts München kein Interesse an einer Aufklärung, noch nicht einmal im Rahmen der Anklage hatten und den Betroffenen mit hässlicher Gleichgültigkeit gegenüber stehen. Es ist ein Mahnmal des Versagens des Rechtsstaats, der die Angehörigen der NSU-Mordopfer über Jahre erst kriminalisierte und nun endgültig im Stich gelassen hat.”
Ehtnie spielte für Richter eine Rolle
“Mit extremer Kälte werden die Mordopfer in diesem Urteil nur so beschrieben, wie sie vom NSU gesehen wurden – Zitat: „Aufgrund der durch sein Aussehen naheliegenden südländischen Abstammung gehörte Mehmet Kubaşık zu der von den drei Personen ausländerfeindlich-rassistisch definierten Opfergruppe“. In wortwörtlich gleichlautender Weise sind im Urteil alle Mordopfer mit Migrationsgeschichte beschrieben. Bei keinem der ermordeten Männer erwähnt das Gericht, dass sie Familienväter waren, die Ehefrauen, Kinder, Eltern und Geschwister hinterließen. Das Urteil beschreibt die Ermordeten als austauschbare Statisten – und reproduziert damit die rassistischen Stereotype, nach denen der NSU die Ermordeten als Objekte ihres mörderischen Rassismus ausgewählt hatten. Das Urteil hätte den Mordopfern des NSU ein Gesicht geben, die Lücke beschreiben können, die ihre Ermordung gerissen hat. Dazu ist in der Hauptverhandlung Beweis erhoben worden. Aber kein einziges der Worte, die die Hinterbliebenen unter großer persönlicher Anstrengung in der Hauptverhandlung im Angesicht der Angeklagten geäußert haben, darüber, wer die Getöteten waren und welche Folgen ihre Ermordung für die Familien hatte, ist vom Oberlandesgericht München auf den 3.025 Seiten aufgenommen worden.”
Verfassungsschutz kommt nicht vor
Ebenso wenig finden sich die Worte Bundesamt für Verfassungsschutz oder thüringisches Landesamt für Verfassungsschutz im Urteil. In der Hauptverhandlung wurde über Tage hinweg der Verfassungsschutz-Mitarbeiter Andreas Temme als Zeuge gehört, der zum Zeitpunkt des Mordes an Halit Yozgat am Tatort anwesend war. Im Urteil ist noch nicht einmal sein Name erwähnt. Die Sicherheitsbehörden hätten sich selbst die Urteilsgründe nicht besser schreiben können: Weder die Nachrichtendienste und erst recht nicht ihre bis heute immer noch nicht aufgeklärte Rolle bei Entstehung und Fortbestand des NSU werden in dem Urteil auch nur angesprochen, geschweige denn die Vernichtung von Beweismitteln durch diese Behörden.
Vorwurf der Missachtung von Helfern der NSU
Die Urteilsgründe verschweigen die Realität des NSU mit seinem großen Helfernetzwerk. Es werden die Organisationen und Strukturen der neonazistischen Szene, ohne die der NSU nicht hätte existieren können, geschont. So wird das Unterstützernetzwerk „Blood &Honour“ mit keinem Wort erwähnt. Eine Strafverfolgung der mutmaßlichen Helfer und Unterstützer wird es nach diesem Urteil des Oberlandesgerichts München kaum geben.
Diese schriftlichen Urteilsgründe werden also letztlich zu einer weiteren Stärkung der Neonaziszene und der Nachrichtendienste führen, die mit ihren V-Leuten weiterhin einen wichtigen Anteil am Aufbau und Fortbestand rechter und neonazistischer Strukturen haben.