Deutsche Ermittler haben nach Informationen des NDR Zugang zu einem brisanten Datensatz erhalten. Es handelt sich um die streng geheimen Chats, die mutmaßliche Kriminelle geführt haben. Sie nutzten dafür speziell präparierte Handys, die mit der Verschlüsselungssoftware „EncroChat“ ausgestattet waren.
Elbe Express / Haber Merkezi
„EncroChat“-Handys wurden vielfach von Kriminellen verwendet, weil sie als besonders sicher gelten. Die Firma bot ihren Kunden nicht nur eine sichere Software zur Kommunikation an, sondern auch speziell angepasste Handys. Diese sehen aus wie gewöhnliche Telefone, erst durch Eingabe eines Codes wird eine versteckte Oberfläche sichtbar, hier läuft die verschlüsselte Kommunikation. Die Mobiltelefone wurden für etwa 1.000 Euro angeboten.
Ermittlern der europäischen Polizeibehörde Europol war es Anfang des Jahres gelungen „EncroChat“ zu hacken und die gesamte Kommunikation des Krypto-Handy-Anbieters mitzuschneiden.
Nach Informationen des NDR gibt es auch mehr als 3.000 Nutzer von „EncroChat“ aus Deutschland. Französische Sicherheitsbehörden haben deshalb bereits vor einigen Monaten mehrere hunderttausend Chat-Nachrichten an das Bundeskriminalamt (BKA) weitergegeben. Mittlerweile sind in Deutschland mehrere Landeskriminal- und Zollfahndungs-Ämter mit den Ermittlungen betraut. Das BKA und das Zollkriminalamt (ZKA) bestätigten das Vorliegen der Daten, wollten sich zu Details aber nicht äußern. Nach Informationen des NDR sollen die in Deutschland vorliegenden Chat-Nachrichten unter anderem Informationen über große Rauschgiftgeschäfte, aber auch über Geschäfte mit Kriegswaffen, Sprengstoffen und anderen illegalen Substanzen enthalten. Teilweise stieße man auf bislang unbekannte Straftaten und Kriminelle, teilweise lieferten die Daten aber auch wichtige Hinweise für bereits laufende Verfahren, sagten Personen, die mit den Vorgängen vertraut sind. Aufgrund der großen Datenmenge unterstützt die Zentralstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität (ZIT) bei der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main die Ermittlungen. Eine Pressesprecherin sagte auf Nachfrage, auf Basis des Datensatzes seien „bereits mehrere Ermittlungsverfahren“ eingeleitet worden.
Der Chef der Drogenabteilung der Holländischen Nationalpolizei, Max Daniel, sagte dem NDR, die Daten, mit denen nun auch die deutschen Behörden arbeiten, seien ein absoluter Glücksfall. „Die Kriminellen haben sich in diesen Chats absolut sicher gefühlt. Sie reden wirklich sehr offen über Verbrechen, es geht da oft um wirklich bedeutende Namen in der Szene“.
Nach NDR-Informationen wurden in im Kontext der „EncroChat“-Ermittlungen unlängst in Hamburg mutmaßliche Hintermänner einer Kokainbande festgesetzt. In Nordrhein-Westfalen wurden mehrere Wohnungen durchsucht, unter anderem wegen möglicher Verstöße gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz. Laut Staatsanwaltschaft Köln wurden bei der Aktion auch mehrere Kilogramm Heroin und Kokain sowie Munition sichergestellt, zwei Personen wurden festgenommen. Mit den Ermittlungen vertraute Personen sagten dem NDR, man hoffe darauf, durch die Chat-Verläufe deutlich tiefere Einblicke in kriminelle Netzwerke in Deutschland zu erhalten, als dies in der Regel möglich sei. Ziel sei es insbesondere, an Hintermänner krimineller Netzwerke zu kommen. Die Ermittlungen könnten sich allerdings über Jahre hinziehen.
Einige Monate nach dem Hackerangriff durch Europol hatte „EncroChat“ eine Nachricht an seine etwa 60.000 Kunden gesandt und sie aufgefordert, die Handys zu entsorgen. Kurze Zeit später schlugen Polizei und Zoll in mehreren europäischen Ländern zu, innerhalb kürzester Zeit kam es in den Niederlanden, in Großbritannien, Schweden, Frankreich und anderen europäischen Ländern zu mehr als 1.000 Festnahmen. Ermittler konnten Sprengstoff, mehrere Tonnen Drogen, Schusswaffen und viele Millionen Euro Bargeld sicherstellen.
Besonders erfolgreich waren die Razzien in den Niederlanden. Dort konnten die Ermittler auf Grundlage der abgehörten Chats nicht nur mehrere Auftragsmorde verhindern. Sie stürmten zudem 19 Drogenlabore und stellten mehrere Seecontainer sicher, die zu Folterkammern umgebaut waren. Ermittler gehen davon aus, dass Kriminelle darin Mitglieder einer konkurrierenden Drogenbande quälen wollten. Jari Liukku, der die Abteilung „Schwere und Organisierte Kriminalität“ bei Europol leitet, sagte dem NDR, der Datensatz sei absolut außergewöhnlich, da er den Ermittlern erlaube „besonders riskante Akteure im Feld der Organisierten Kriminalität und ihre Netzwerke zu identifizieren“.
Was Ermittler als „Glücksfall“ beschreiben, betrachten Datenschützer mit Skepsis. Hamburgs Datenschutzbeauftragter Johannes Caspar sagte dem NDR, er habe an die deutschen „EncroChat“-Ermittlungen zahlreiche Fragen. So müsse dringend sichergestellt werden „dass Zugriffe auf die höchstpersönlichen Kommunikationsinhalte (…) nicht verdachts- und anlasslos erfolgen“. Eine Sprecherin der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main erklärte dazu allgemein, dass die Ermittler lediglich solche Daten „aus den Chatinhalt herausgefiltert und zu den Verfahrensakten genommen werden“, die im Zusammenhang mit Straftaten stehen.
Der Rechtsanwalt Philipp Thiée, der einen Beschuldigten vertritt, erklärte dem NDR, dass derzeit bereits in Frankreich und in Großbritannien überprüft werde, ob die Daten rechtmäßig erhoben worden seien. „Es wird jetzt überprüft werden müssen, welche Beschlüsse dem Hack zugrunde gelegen haben.“