Die jüngste Parlamentswahl in der Türkei bedeutet eine Zäsur in der 13-jährigen AKP-Ära. Die Regierungspartei musste einen Stimmenrückgang um 9 Prozentpunkte hinnehmen und hat ihre absolute Mehrheit im Parlament verloren. Die säkular-kemalistische oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP) ist zu einem wichtigen Machtfaktor geworden und könnte in einer Großen Koalition Regierungsverantwortung übernehmen.
ELBE EXPRESS/REDAKTION
Die Parlamentswahl am 7. Juni 2015 hat zwei Verlierer: Die Wähler haben Staatspräsident Erdoğans Plänen zur Einführung eines Präsidialsystems eine Absage erteilt. Erdoğan hatte sich, trotz des Neutralitätsgebots, auf Seiten der Regierungspartei in den Wahlkampf eingemischt und für eine Zwei-Drittel-Mehrheit der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) geworben. Abgestraft wurde jedoch auch die Regierungspartei, die Stimmen um neun Prozentpunkte eingebüßt und ihre absolute Mehrheit verloren hat.
Der Stimmenrückgang für die AKP allein überrascht wenig, begann er doch bereits nach den Gezi-Park-Protesten im Sommer 2013 und setzte sich aufgrund der Korruptionsaffäre und außenpolitischer Rückschläge fort. Während die Regierungspartei bei der Parlamentswahl 2011 21,4 Millionen Stimmen auf sich vereinen konnte, ging diese Zahl bei der Kommunalwahl 2014 auf 19,5 Millionen zurück, obwohl vier Millionen Wahlberechtigte hinzugekommen waren, und sackte bei den aktuellen Wahlen auf 18,9 Millionen ab. Verantwortlich hierfür waren verschiedene Gründe: Die Verlangsamung des Wirtschaftswachstums, die außenpolitischen Rückschläge, die Zerrissenheit in der AKP, die als autoritär anti-demokratisch wahrgenommene Politik sowie Befürchtungen in der Bevölkerung vor einer Allmacht des Staatspräsidenten im Falle eines Übergangs zum Präsidialsystem.
Auffällig ist dagegen das schlechte Ergebnis der CHP, die sich als sozialdemokratische Alternative profilieren möchte. Was sind die Gründe dafür, dass die säkular-kemalistische oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP) von der Anti-Erdoğan- und Anti-AKP-Stimmung nicht genügend profitieren konnte und sogar leichte Stimmeneinbußen hinnehmen musste.
CHP auf sozialdemokratischem Kurs
Erfolgversprechend für die CHP schien, dass die Partei 80 Prozent ihrer Kandidaten für die Parlamentswahl 2015 in einer Vorwahl durch ihre Parteimitglieder bestimmen ließ – ein in der Türkei bislang einmaliger demokratischer Schritt. In allen anderen Parteien wurden die Kandidaten für das Parlament durch die Parteiführung nominiert.
Zudem legte die CHP ein Wahlprogramm vor, das eine “sozialdemokratische Handschrift” trug. Statt wie bisher Laizismus und Republikanismus wurden darin Grundwerte wie Freiheit, Egalitarismus, Solidarität und Demokratie in den Vordergrund gestellt. Das Programm versprach die Gewährleistung der Grundrechte und Grundfreiheiten, die Restauration und Stärkung des Rechtsstaates sowie den Ausbau der Demokratie als zentrale Bedingungen des Übergangs in eine Wissensgesellschaft. Zu den zentralen Wahlversprechen gehörten auch die Stärkung der sozialen Gerechtigkeit, die Reduzierung der 10-Prozent-Sperrklausel zum Einzug einer Partei ins Parlament sowie eine neue, freiheitliche Verfassung. In Aussicht gestellt wurden auch die Stärkung des parlamentarischen Systems und die Einschränkung der Befugnisse des Staatspräsidenten. Der konfessionellen Minderheit der Aleviten versprach das Programm die Gewährung eines legalen Status für ihre Kult-Häuser (Cemevi) und die Abschaffung des verpflichtenden, auf den sunnitischen Islam ausgerichteten Religionsunterrichts. Zur Lösung des Kurdenproblems wurde auf politische Verhandlungen im Parlament gesetzt. Die Regierungspartei AKP hatte bisher nichtöffentliche Verhandlungen mit Öcalan, dem inhaftierten Chef der verbotenen PKK, geführt.
Das Wahlprogramm der CHP versprach auch in sozialpolitischer Hinsicht viel: eine deutliche Anhebung des Mindestlohns, jährlich eine 13. und 14. Zahlung jeweils vor dem Ramadan- und Opfer-Fest für Rentenbezieher, ein Grundeinkommen für Familien und Kindergarten-Zuschuss für Familien mit Kindern sowie die Einschränkung der Leiharbeit.
Trotz alledem blieb der Stimmenanteil der CHP um etwa einen Prozentpunkt hinter dem Ergebnis von 2011 zurück. Dafür verantwortlich ist eine Kombination aus strukturellen und aktuellen Gründen.
Gründe für das schlechte Wahlergebnis der CHP
Ein entscheidender Grund sowohl für das aktuelle schlechte Wahlergebnis als auch für die vergangenen Wahlniederlagen ist der konservative Charakter der türkischen Gesellschaft. Werte wie Laizismus und Westorientierung, die die CHP und linke Parteien befürworten, waren weder in der Vergangenheit, noch sind sie heute in der Bevölkerung überwiegend verankert.
Mitverantwortlich an der notorischen Schwäche des linken Lagers und der CHP ist auch die Lagerbildung entlang kulturell-religiöser Differenzen und Identitäten. Die CHP wird gewählt von urbanen, westlich orientierten, mittelständischen und zum Teil national ausgerichteten türkischen Bevölkerungsschichten sowie von Aleviten, die in der CHP einen Garanten für die Absicherung ihres Lebensstils sehen. Diese Schichten befinden sich allerdings in der Bevölkerung in einer Minderheitenposition.
Die Erinnerung der konservativen Bevölkerung an die von CHP-Regierungen betriebene autoritäre top-down Modernisierung in den Jahren der Einparteienregierung vor 1950, aber auch die späteren autoritären systemerhaltenden Reflexe der Partei haben auch dieses Mal eine Ausweitung des Wählerkreises der CHP jenseits der säkularen urbanen Mittelschichten, der säkular-nationalen Linken und der Aleviten verhindert.
Trotz schlechten Wahlergebnisses – die CHP wird zum Machtfaktor
Dem Einzug der HDP ins Parlament ist es zu verdanken, dass die CHP trotz ihres Stimmenrückgangs zu einem wichtigen Machtfaktor in der türkischen Politik geworden ist. Man kann von der Entstehung eines “Blocks von 212 Abgeordneten” (davon 132 der CHP) sprechen, die der islamisch-konservativen Rhetorik und Politik der AKP (und zum Teil auch der MHP) kritisch gegenüberstehen. Finden CHP und HDP zu einer konstruktiven Zusammenarbeit, wird dies den Handlungsspielraum beider Parteien enorm erweitern. Dies setzt allerdings voraus, dass die CHP ihre Position in der Lösung der Kurdenfrage überdenkt. Die CHP-Führung lehnt direkte Verhandlungen mit Öcalan und der PKK ab und plädiert dafür, sich ohne auf konkrete Schritte festzulegen, das Kurdenproblem im Parlament zu lösen. Wichtig ist auch, dass die CHP ihre ablehnende Haltung zur Bildung in der Muttersprache (auf Kurdisch) überwindet und in dieser Frage einen heute nicht vorhandenen innerparteilichen Konsens findet. In jedem Falle jedoch ist die CHP für eine Verfassungsänderung unverzichtbar, ohne die es langfristig keine Lösung des Kurdenproblems geben wird.
Bleibt die CHP jedoch in der Opposition, wird sich Parteichef Kılıçdaroğlu auf dem Parteikongress im September der parteiinternen Kritik am schlechten Wahlergebnis stellen müssen. Schließlich ist dies seit seinem Amtsantritt im Mai 2010 seine fünfte Wahlniederlage in Folge. Anders sieht es im Falle einer Regierungsbeteiligung der CHP aus.
Da zwischen den beiden Parteien viele politische und soziokulturelle Schnittmengen bestehen, erscheint im Augenblick eine AKP-MHP-Koalitionsregierung auf den ersten Blick wahrscheinlicher als eine große Koalition nach deutschem Muster zwischen AKP und CHP. Gleichwohl spricht zweierlei gegen eine konservativ-nationalistische Koalition: Erstens, dass die AKP gezwungen ist – aus innen- sowie außenpolitischen Erwägungen – den Verhandlungsprozess mit der PKK fortzusetzen. Ein Fortschritt in der Kurdenfrage dürfte in einer AKP-MHP-Koalition allerdings sehr schwierig sein, da die MHP sowohl den vorausgegangenen Osloer-Prozess als auch die aktuellen Verhandlungen mit Öcalan und der PKK als “Auflösungsprozess” des Nationalstaates bezeichnet und aufs Schärfste kritisiert hat. MHP-Parteichef Devlet Bahçeli erklärte nach der Parlamentswahl, eine Koalition mit der AKP sei nur möglich, wenn die AKP auf die Fortsetzung der Verhandlungen mit der PKK verzichte. Dass sich die AKP darauf einlässt, ist unwahrscheinlich, da sie weitere kurdische Wähler verlieren würde und die nationalen Interessen der Türkei in der Region die Fortsetzung der Verhandlungen mit der PKK erfordern.
Zweitens wäre von einer islamisch-nationalistischen Koalition keine Entschärfung der bestehenden Polarisierung entlang konfessioneller (alevitisch vs. sunnitisch) und weltanschaulicher Linien (säkular vs. islamisch-konservativ) zu erwarten, die von großen Teilen der Öffentlichkeit als Gefahr angesehen wird. Auch Fortschritte in der Demokratisierung würde es nicht geben, was die Türkei noch weiter von der Europäischen Union und dem Westen entfernen, eine internationale Isolation des Landes mit sich bringen und sich negativ auf die Wirtschaft auswirken wird.
Eine Große Koalition aus AKP und CHP wird wahrscheinlich viel stärkere Spannungen mit sich bringen, und große Kompromisse auf beiden Seiten erfordern. Es ist aus Sicht der CHP problematisch, sich auf eine Koalition mit der AKP einzulassen ohne dass die AKP in drei Punkten der CHP entgegenkommt: Erstens eine die türkische Öffentlichkeit zufriedenstellende Aufarbeitung der Korruptionsaffäre vom Dezember 2013. Dies würde im Konkreten bedeuten, dass das eingestellte Korruptionsverfahren gegen die ehemaligen Minister Zafer Çağlayan (Wirtschaft), Egemen Bağış (EU), Muammer Güler (Inneres) und Erdoğan Bayraktar (Umwelt) wieder aufgenommen wird. Am 20. Januar 2015 hat das türkische Parlament die Eröffnung eines Strafprozesses gegen die vier wegen Bestechung zurückgetretenen Minister abgewendet. Ein zweiter Punkt wäre eine Garantie der AKP-Führung, dass sie bei einer Großen Koalition eine Einmischung des Staatspräsidenten in die Regierungsangelegenheiten nicht weiter zulässt. Der dritte Punkt wäre die Bereitschaft zu einer Kurskorrektur in der Außenpolitik.
Dessen ungeachtet wäre eine Große Koalition für beide Parteien vorteilhaft: Für die AKP wäre sie eine Chance, die Legitimationserosion, der sie aufgrund der Gezi-Proteste, der außenpolitischen Rückschläge und ihrer autoritären Innenpolitik ausgesetzt ist, aufzuhalten. Sie böte der Partei zweitens die Chance, ihre Bemühungen zur Lösung des Kurdenproblems auf eine breitere gesellschaftliche Basis zu stellen. Eine große Koalition macht außerdem überfällige außenpolitische Kurskorrekturen leichter vermittel- und durchsetzbar und wäre ein positives Signal Richtung Europa.
Vorteilhaft wäre eine Große Koalition auch für die CHP, weil sie dadurch vor allem in der Außenpolitik, Wirtschaft und Sozialpolitik Kompetenz zeigen und ihr Image als ewige Oppositionspartei ablegen könnte. Damit könnte die säkular-linke CHP ihren Wählerkreis jenseits von säkularen urbanen Mittelschichten, säkular-nationalen Linken und Aleviten ausweiten. Vorteilhaft ist eine Regierungsbeteiligung auch für den Parteichef Kılıçdaroğlu, weil er wohl nur so seine Position als Parteichef behalten kann.
Eine Große Koalition – sowohl deren Zustandekommen als auch ihre Funktionsfähigkeit – setzt aber auch voraus, dass beide Parteien ihr Bild von ihrem Gegenüber zu korrigieren: Die AKP müsste von ihrem Feindbild der CHP als eine aufoktroyierte “fremde Macht”, die den Wertvorstellungen der Bevölkerung feindlich gegenübersteht aufgeben. Die CHP müsste dagegen sich von ihr Feindbild der AKP als korrupte und inkompetente Regierungspartei, die nationale Reichtümer an Parteigänger verschachert hat, verabschieden. Ob beide Parteien es schaffen werden, sich von ihren Feindbildern loszulösen und den Weg einer konstruktiven Regierungsarbeit zu ebnen, wird sich in den kommenden Tagen zeigen. Spätestens bei der Wahl des Präsidenten der Großen Nationalversammlung der Türkei wird sich eine Tendenz hinsichtlich einer Koalitionsoption zeigen.
Der Autor
Dr. Yaşar Aydın forschte bis Ende September 2014 als Mercator-IPC-Fellow an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) u.a. zur türkischen Außen- und Migrationspolitik. Er ist Lehrbeauftragter an der HafenCity Universität Hamburg und an der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie. Kontakt: Yasar.Aydin@gmx.de